Die Wippentechnik ist ein Hilfsmittel, mit dem sich eine Werte-orientierte, mitfühlende Beobachter-Haltung trainieren lässt. Und zwar, indem man eine eigene, bereits umgesetzte Handlung in einer konkreten Situation aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet. Statt mit "richtig" oder "falsch" zu argumentieren, geht es darum, einen interessierten, bejahenden Standpunkt einzunehmen und mehrmals die Perspektive auf die eine Situation und die eigene Handlung in dieser Situation zu wechseln - so als würde man auf einer Wippe mehrmals hin- und herschaukeln, ohne sich starr und vorschnell auf eine Seite festzulegen. Dieser mehrmalige Perspektiven-Wechsel hilft, die Bedeutung einer einzigen persönlichen Handlung für die Ausrichtung des eigenen Lebens in diesem Moment zu erkunden. Das Coaching mit der Wippentechnick ist damit ein Hilfsmittel für die eigene Selbst-Vergegenwärtigung (Beobachter-Selbst im Gegensatz zu einem starren Selbst-Konzept). Mit einem starren Selbstkonzept sind wir über verschiedene Situationen hinweg festgelegt (z.B. "der Selbstunsichere","Die Schlaue", "der verständnisvolle Therapeut"); es kann uns selbst beschränken, wenn wir daran glauben, diesen Konzepten immer gerecht werden zu müssen. Wir büßen Flexibilität ein, denn nicht jede Situation erfordert von uns das gleiche Handeln. Statt Konzepte kann uns die Ausrichtung nach persönlichen Werten, nach dem, was uns persönlich wirklich wichtig is, eine flexiblere Orientierung geben. Mit der Wippentechnik lässt sich situationsspezifisch Flexibilität trainieren. Dies ist Kernanliegen der Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT).
Die zwei wichtigsten Regeln der Wippentechnik
Die wichtigste Regel des Coachings mit der Wippentechnik heißt: nur eine einzige konkrete persönliche Erfolgs-Handlung in einer bestimmten Situation herausgreifen! Diese konkrete Handlung ist der Punkt, auf den sich das komplette Coaching bezieht. Es sollte etwas sein, wo man sich in einer konkreten Situation so verhalten hat, wie man aus tiefsten Herzen heraus als Mensch sein will (HINZU-Handlung) - nicht wie wir glauben sein zu müssen. Da der Handlungs-Bezug so wichtig ist, darf diese HINZU-Handlung im Verlauf des Coachings möglichs oft explizit wiederholt formuliert werden.
Und da ist auch schon der zweite Hinweis vor der konkreten Anleitung: In ganzen Sätzen formulieren mit vielen Bindewörtern ("deshalb", "darum", "indem ich"). Das hat die Bewandtnis, dass unser Verstand eine Verknüpfungsmaschine ist. Der Verstand ist darauf getrimmt, Verbindungen herzustellen (z.B. Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zu konstruieren) - das macht ihn zu einer mächtigen Problemlöse-Maschinerie. Allerdings verknüpft er auch willkürlich, so dass er uns mit seinen Schlussfolgerungen in unseren Handlungen blockieren kann (z.B. Vermeidung von Situationen wegen Angst; vgl. Bezugsrahmentheorie von Sprache). Wir können uns allerdings bewusst unseres Verstandes als Verknüpfungsmaschine bedienen und ihn darauf trainieren, neue Verknüpfungen und Verbindungen (abseits gut eingelernter Gewohnheiten) herzustellen. Deshalb: unbedingt in ganzen Relativ-Sätzen ausformulieren!
Und nun die konkrete Anleitung (diese lässt sich unten auch als pdf herunterladen):
Ablauf des Selbstlob-coachings mit der WippenTechnik
Handlungen gegenüberstellen
1a) Als Ausgangspunkt des Selbstlobcoachings eine konkrete HINZU-Handlung benennen und beschreiben, was alles Bestandteil der eigenen HINZU-Handlung war, die man in einer bestimmten Situation umsetzen konnte. 2a) sich vorstellen (und dann benennen), was man ungünstigerweise in derselben Situation unter denselben Bedingungen WEGVON getan hätte - wir kennen uns schließlich am besten und wissen meist sehr gut, wie wir insgeheim kneifen (um z.B. der Gefahr zu entgehen, uns zu blamieren oder Schuld- oder Versagensgefühlen ausgesetzt zu sein).
Innere "Ratgeber*Innen" sprechen lassen
2b) sich einen inneren Ratgeber vorstellen, egal ob männlich, weiblich, ein Fabelwesen oder eine innere Stimme mit einem bestimmten Sprechduktus und Klangfärbung. Ein Ratgeber, der es prinzipiell gut mit uns meint und der für die vorgestellte WEGVON-Handlung plädiert. Dabei konkret formulieren, welche Argumente dieser Ratgeber wählt, welche Zusammenhänge er sieht und vor allem: 2c) vor welchen unangenehmen Gefühlen er uns mit seiner Argumentation zu bewahren versucht. Dann wechseln 1b) und nun den HINZU-Ratgeber sprechen lassen, der zu der umgesetzten HINZU-Handlung mit seinen Argumenten ermuntert. Auch ihn darlegen lassen, wie er seine Ermunterungen begründet; seine Perspektive erklären lassen. Und dennoch fair bleiben, denn es sollte 1c) klar benannt sein, welches innere emotionale Risiko er mit seinem Plädoyer für die HINZU-Handlung abverlangt. Beim Wippen zwischen der Perspektiven der "Ratgeber" geht es nicht darum "richtige" oder "falsche" Gedanken zu entlarven, es geht auch nicht um die Gedanken, die in der Situation tatsächlich gedacht wurden, sondern es geht darum, Bewusstheit für die jeweilige Perspektive zu schaffen, so lange bis emotionaler "Schutz" bzw. emotionales "Risiko" in die Tiefe benannt werden können.
Folgen und WERT-geschätzte Bedeutung der HINZU-Handlung
Gegenüberstellen, 2d) welche ungünstigen Folgen die vorgestellte WEGVON-Handlung in dieser einen Situation vermutlich gehabt hätte, und 1d) welche tatsächlichen Folgen kurz vor, während und nach der HINZU-Handlung erlebt wurden.
Finale furioso: d.h. viel Energie für die Verknüpfung zwischen der einen HINZU-Handlung und der persönlichen Bedeutung = 3) aufwenden!!! und
herausarbeiten, was an dieser einen HINZU-Handlung im Angesicht des emotionalen Risikos persönlich Wert-voll war. Den Wert klar benennen, der im Moment der HINZU-Handlung gelebt wurde (=beWERTen). Sich dann selbst bewusst machen, welche Richtung das eigenen Leben nehmen würde, wenn es öfter gelänge in dieselbe WERT-geschätzte Richtung zu handeln. Sich schließlich selbst ermuntern, den persönlichen WERT mit einer weiteren konkreten (Mini)-Handlung zu stärken (wann?, gegenüber wem?, wie konkret?).
Textmarker-Idee des Selbstlob-coachings
Die Wippentechnik zur Bewusstmachung einer WERT-vollen Bedeutung eignet sich gerade für MINI-Hinzu-Handlung außerhalb der gewohnten Komfortzone. Das ist wie bei einem Textmarker, den benutzt man auch für die unscheinbaren Textstellen, die man sonst leicht überlesen würde. Unscheinbare Textstellen, in denen sich doch ein wichtiger Bedeutungsgehalt verbirgt. Um diese persönlich wichtige Bedeutung nicht zu verpassen, setzt man den Textmarker an, und hellt die entsprechende Passage auf, im Englischen: man benutzt den highlighter. So gesehen ist es jede Mini-Hinzu-Handlung außerhalb der gewohnten kurzfristigen Komfortzone Wert, zu einem persönlichen "Highlight" gemacht zu werden. Hierfür gilt es, selbst in die Rolle eines Coaches zu schlüpfen und die Bedeutung dieser Handlung im Unterschied zur möglichen Alternativ-Handlung bewusst zu machen.
Die Wippentechnik hat Psychotherapeut Reimer Bierhals auf Basis der ACT-Matrix (Polk & Schoendorff, 2014) und der Bezugsrahmentheorie von Kognition und Sparache entwickelt [hier: weitere Hintergrund-Infos über das Selbstlobcoaching]
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Jonas (Mittwoch, 09 Januar 2019 22:02)
Mir fällt es beim Selbstlob-Coaching oft schwer Handlungen als Hinzu-Schritte anzuerkennen, wenn sie für mich in der jeweiligen Situation keine Überwindung waren. In diesem Fall wäre die Weg-von Handlung gar keine Alternative gewesen, ich habe also quasi im Autopilot einen Hinzu-Schritt gemacht. Die Highlighter-Perpektive hat mir darauf einen kleinen Blickwechsel verschafft. Vielleicht schafft es das Wippen-Coaching, mir genau das klarzumachen, dass ich darauf eben doch Einfluss hatte und somit auch Lob dafür verdient habe. Eben auch bei Situationen, die ich davor nicht so eingeschätzt habe.
Reimer Bierhals (Donnerstag, 10 Januar 2019 12:45)
das freut mich, dass die Highlighter-Perspektive einen kleinen Blickwechsel verschafft hat und Einfluss-Möglichkeiten aufgezeigt hat!
Ute G. (Freitag, 11 Januar 2019 06:48)
Ratgebergedanken schriftlich in Worte zu fassen, ist immer wieder sehr aufschlussreich. Das Ausformulieren konkreter Antworten auf konkrete Wippenfragen führt mich direkt zur Würdigung dieses einen HINZU-Schrittes. Beim Wieder-Lesen sind dann oft Schlüsselbegriffe zu entdecken, wie mit dem "Highlighter" hervorgehoben.
Reimer Bierhals (Freitag, 11 Januar 2019 11:30)
Das Wahrnehmen von Schlüsselbegriffen kann uns helfen zu erkennen, welche Bezüge wir herstellen. Das gibt uns die Möglichkeit bewusster zu wählen, welche Bezüge für uns und die gewünscht Ausrichtung unseres Lebens hilfreicher sind herzustellen. Das ist damit gemeint: wenn ich dazu ermuntere, bewusst den Verstand als Verknüpfungs-Maschine zu benutzen.
Alex (Mittwoch, 23 Januar 2019 20:03)
Ich finde die Darstellung der Wippen-Technik sehr detailliert. Schön, dass du auch ein Datenblatt mit eingefügt hast, auf dem die wesentlichen Elemente nochmal veranschaulicht sind.
Vanessa (Dienstag, 05 Februar 2019 13:31)
Ich finde die Wippen-Methode sehr hilfreich dabei, sich eigenständig Hinzu- Handlungen anerkennen zu können.
Auch die Wertschätzung kleinerer, vielleicht auch als weniger bedeutsam wahrgenommener Handlungen, wird dadurch ermöglicht und führt somit zu einer positiveren Selbstreflexion, in der auch kleine Erfolge zählen.
Durch den Vergleich der Hinzu- und Wegvon- Handlungen kann man sehr gut Rückschlüsse auf die eigenen Verhaltensweisen ziehen und Erkenntnisse in späteren schwierigen Situationen anwenden.
Zudem ist das Arbeitsmaterial sehr hilfreich und verständlich, was Spaß erzeugt, Schritte in die gewertschätzte Richtung eigenständig zu verfolgen.